Die Sammlung Deutscher Drucke 1801-1870 präsentiert monatlich eine ganz besondere Erwerbung, die innerhalb Deutschlands zumeist in keiner anderen Bibliothek vorhanden ist.
Einen guten Überblick über die thematische Vielfalt aller SDD-Zugänge gibt die ständig aktualisierte Neuerwerbungsliste.
Dezember 2024
Der Kleinen Lust und Spiel : Schilderungen und Scenen aus dem Jugendleben : in zwölf Bildern mit Versen.
Stuttgart ; Eßlingen : Verlag von Schreiber und Schill, [1855]
Der Zeichenlehrer und Lithograf Jakob Ferdinand Schreiber (1809-1867) gründete 1831 in Esslingen mit einem Grundstock von 44 Lithografiesteinen den „Verlag und Lithographische Anstalt J. F. Schreiber“, der rasch expandierte und insbesondere ab 1840 mit großem Erfolg illustrierte Kinderbücher, Malbücher, naturkundliche Sachbücher und Wandlehrtafeln für Schulen veröffentlichte, an dem Schreibers Teilhaber Karl Thienemann wesentlichen Anteil hatte. Als 1849 Karl Thienemann (1786-1863) aus der Firma austrat und in Stuttgart den K. Thienemanns Verlag gründete, assoziierte sich J. F. Schreiber mit dem Buchhändler Carl Schill (1801-1862) in Stuttgart. Die Firma hieß nun Schreiber & Schill. Schill übernahm den Vertrieb in Stuttgart, während Schreiber sich der Buchproduktion in Esslingen widmete. In Esslingen erinnert das „J. F. Schreiber Museum“ bis heute an die große Zeit der Lithografie.
Bei „Der Kleinen Lust und Spiel“ handelt es sich um ein typisches Schreiber-Bilderbuch. Zwölf bunte Litho-Tafeln laden zum Betrachten ein. Die Illustrationen sind mit zwei Tontafeln unterlegt, braun für den Vordergrund und hellblau für den Himmel. Anschließend wurden sie mit der Hand koloriert. Ein ebenfalls lithografierter Text eines unbekannten Verfassers beschreibt die dargestellte Szene und endet oft mit erhobenem Zeigefinger in einer moralischen Aussage, die den Kindern Tugenden wie Gehorsam, Bescheidenheit oder Vorsicht vermitteln soll. So zum Beispiel bei den „Winterfreuden“ (Tafel 12), wo beim Schlittenfahren und Eislaufen zur Vorsicht gemahnt wird: „Doch … allzukeck dürft ihr nicht seyn / Sonst brecht ihr, fallend, Hals und Bein!“
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten, Hals- und Beinbruch für 2025!
Vorherige Monate
Boner, Charles: On hearing the news of the Emperor of Russia's death.
Printed as Mss. - Ratisbon : [Verlag nicht ermittelbar], 1855
Der Herrscher, anlässlich dessen Todes der britische Schriftsteller Charles Boner sein Gelegenheitsgedicht veröffentlichte, war der russische Zar Nikolaus I., der im März 1855 unerwartet an den Folgen einer Grippe verstorben war. Nikolaus I. hatte ein autoritäres Regime errichtet, das revolutionäre und nationale Bestrebungen inner- und außerhalb Russlands gewaltsam unterdrückte. Der Versuch, die Vorherrschaft im Nahen Osten und auf dem Balkan zu erlangen, mündete in den Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich sowie dessen Verbündeten England, Frankreich und später Sardinien, der als der erste moderne Stellungskrieg mit medialer Begleitung gilt.
Das Gedicht schildert die Gedanken über den plötzlichen Tod des Schreckensherrschers, der Truppen in den Krieg geschickt und für das Unglück sehr vieler Menschen verantwortlich war. Aber selbst wenn der große Tyrann nun angesichts des Todes machtlos ist, sollte dies kein Grund zum Jubeln sein, sondern Anlass, über die eigene Sterblichkeit nachzudenken: „Can we exult then, or have we forgot - His fate is ours and death the mortal lot?“ (Seite [3])
Als Charles Boner diese Verse verfasste, lebte er bereits seit vielen Jahren in Deutschland und war als Erzieher am Hof von Maximilian Karl von Thurn und Taxis im Regenburger Schloss Sankt Emmeram Teil der höfischen Gesellschaft und enger Vertrauter des kunstliebenden Fürsten. 1815 in Bath geboren, war Boner zunächst Hauslehrer in der Familie des bekannten Malers John Constable in London, ehe er 1839 eine Einladung nach Deutschland annahm, wo er die deutsche Sprache erlernte und sich bald heimisch fühlte. Der begeisterte Jäger durfte seine adeligen Freunde bei ihren Jagdausflügen begleiten und schrieb neben einem Werk über alle jagdbaren Tiere des Waldes auch ein Buch über die Gamsjagd in den bayrischen Alpen. Boners lebendige Schilderung der Gebirgswelt beeindruckte auch Charles Darwin, der sich nach der Lektüre wünschte, wieder jung zu sein und durch die Berge zu streifen. Als „Kulturbuch ersten Ranges, nicht nur für Jäger, sondern für jeden, der Bayern liebt“ wird es aktuell in einem einschlägigen Onlineshop beworben.
Boner war aber zugleich ein Poet und Schöngeist mit Interesse an Kulturaustausch, der Artikel über deutsche Literatur für englische Zeitschriften wie die „Literary Gazette“ verfasste. Er schrieb ein von Franz von Pocci illustriertes Kinderbuch und übersetzte neben Gedichten deutscher Autoren wie z. B. Hoffmann von Fallersleben auch die Märchen des Hans Christian Andersen, wobei er sich die künstlerische Freiheit erlaubte, der Prinzessin gleich drei anstatt der einen Erbse unter die Matratze zu legen.
Nach seiner Zeit in Regensburg lebte Boner überwiegend in München und schrieb in verschiedenen englischsprachigen Zeitungen über aktuelle politische Ereignisse.
Chronologische Übersicht der wichtigsten Personen und der denkwürdigsten Ereignisse aus der Geschichte von Erschaffung der Welt bis auf gegenwärtige Zeit.
Halle : Gebauer, [1810], 1 Papierrolle [7,1 x 357 cm] in Köcher
Bekanntermaßen ist Kuriosität nicht die Leitmaxime für die Erwerbung eines Titels für die Sammlung Deutscher Drucke. Doch zeichnet sich dieses hier vorgestellte Werk durch eine markante Besonderheit hinsichtlich seines Formats aus, so dass es im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Frankfurter SDD-Gesamtbestand von weitgehend unikalen Titeln des 19. Jahrhunderts herausragt.
Der Titel ist geradezu minimalistisch, wenn man sich die äußere Beschaffenheit des dazugehörigen Werks anschaut: „Chronologische Übersicht der wichtigsten Personen und der denkwürdigsten Ereignisse aus der Geschichte von Erschaffung der Welt bis gegenwärtige Zeit“, wobei die gegenwärtige Zeit 1810, dem Erscheinungsjahr, endet, der letzte Eintrag führt die Gründung einer Universität zu Berlin an (die erst seit 1949 den Namen Humboldt trägt). Kurioser mutet der erste Eintrag an, richtig: die Erschaffung der Welt, datiert auf 3984 vor Christus, als Referenz-Person firmiert hier „Adam“. Und noch kurioser die Länge der Übersicht, misst doch die nur 7cm breite Papierrolle mit historischen Ereignissen 357cm! Konsequenterweise wurde mit der Rolle ein Papierköcher als Aufbewahrungsort mitgeliefert (zumindest so im Antiquariatshandel erworben), was den Transport, nicht aber die Handhabbarkeit erleichtert. Für jeden, der an schneller Aufrufbarkeit von Wissen interessiert war, ein Usability-Alptraum. Von der Erschaffung der Welt bis zur Gründung Roms ist man schon dreizehn Zeilen später, wie überhaupt die „denkwürdigsten Ereignisse“ aus der klassischen Antike in rasanter Folge gelistet werden.
Erschienen ist das Werk in der Halleschen Druckerei, Verlags- und Buchhandelsfirma Johann Jacob Gebauer, einem der renommiertesten deutschen Verlage des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Wer der Kompilator war, wird zumindest nicht aufgeführt, auch in der im Rahmen eines DFG-Projekts 2014 erstellten Bibliographie der Verlagsproduktion taucht die Papierrolle nicht auf, wohl aber ein fast gleichnamiges Buch, dessen Chronologie bis 1811 reichen soll (aber ebenfalls 1810 endet) und von „J. G. Kühnemann und Kollegen an der Hauptschule zu Halle“ zusammengestellt wurde. Dieses wiederum wird in gängigen wissenschaftlichen Zeitschriften der Zeit wie etwa dem „Morgenblatt für gebildete Stände“ vom Verlag angezeigt und beworben, nicht aber das wundersame Werk im Rollenformat. Bei dem Versuch, mehr über J. G. Kühnemann herauszufinden, stößt man auf eine Suchanzeige im „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ vom Februar 1856, in der der Verleger J. Wiesike (Brandenburg) dessen Aufenthaltsort und genaue Adresse erfahren möchte.
Erfahren möchte man auch, wie eine solche voluminöse Wissensrolle fabriziert wurde. Zumindest kann berichtet werden, dass die „Chronologische Übersicht …“ häppchenweise Stück für Stück ausgerollt im Digitalisierungszentrum der UB Frankfurt gescannt wurde, wobei gleich mehrere Mitarbeiterinnen Hand anlegen mussten (und wozu hier nun die Gelegenheit genutzt werden soll, den Kolleginnen herzlich für ihr findiges Engagement zu danken).
Die Goldene Leyer: Auswahl der vorzüglichsten Dichter von England, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien / herausgegeben von J. Macray.
London : Treuttel, Würtz, Treuttel Jun. and Richter, 1830.
Einen guten Tee aus einer feinen Porzellantasse zu trinken, ist ein Genuss. Dass aber ähnliche ästhetische Erlebnisse bei der Lektüre von Gedichten auf „Porzellanpapier“ erfolgen kann, mag überraschen. Ein eindrucksvolles Lese-Objekt dieser Art ist ein schmales, unpaginiertes Büchlein mit dem Titel „Die Goldene Leyer“, mit Goldfarbe gedruckt in London im Jahre 1830. Es enthält eine Auswahl von Werken „der vorzüglichsten Dichter“ gleich aus fünf europäischen Ländern (England, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien), in der jeweiligen Landessprache. Nicht nur die deutsche Autor*innen-Auswahl verwundert ein wenig, mit Herder, Goethe, Schiller, Uhland konnte man rechnen, mit Ludwig Rellstab oder gar mit Hermine von Chézy nicht. Der Herausgeber, John Macray (1795-1878), später lange Zeit Bibliothekar an der für europäischen Sprachen zuständigen Taylor Institution Library, einer Zweigbibliothek der Bodleian Library Oxford, preist in seinem Vorwort die völkerverbindende Kraft der Lyrik, woran er selbst als Übersetzer mitgewirkt haben dürfte. Die „Goldene Leyer“ kommt (mit Ausnahme des Titels) allerdings ohne Übersetzungen aus.
Zur besonderen Materialität des Bändchens sei gesagt, dass die Bezeichnung „Porzellanpapier“ auf die leuchtend weiße Oberfläche anspielt, die dem Bändchen, in dunkelblauem Halbleder gehalten und mit einem Marmorpapierbezug versehen, einen besonders edlen und vornehmen Charakter verleiht. Entwickelt wurde dieses Papier wahrscheinlich um 1830 von Thomas de La Rue in London, wie man in einem einschlägigen Werk zur Papiergeschichte nachlesen kann, ein wahrer Erfolgsschlager, und für luxuspapiergemäße Genres wie Geschäfts- und Visitenkarten prädestiniert. Macray nutzte übrigens das vorliegende Werk auch, um diese neue Erfindung dem geneigten Publikum vorzuführen („to shew the progress of a new and beautiful Art“).
Diese einzig bekannte Ausgabe der „Goldenen Leyer“ mit deutschem Titelblatt (es existieren mehrere Bände mit englischem Titel) enthält noch viel mehr an (Erzähl)stoff und ist ein wunderbares Beispiel für das, was die Sammeltätigkeit bei der SDD so besonders macht: Wer sind wohl Elizabeth Henriette Green, Caroline Emilie Green und Caroline Ann Wurtzburg, deren Namen sich auf dem Vorsatzblatt befinden, geschrieben wohl von ein und derselben Hand mit Tinte in Kurrentschrift, datiert 1874? Zumindest lässt sich eine Caroline A. Wurtzburg als Herausgeberin der Federzeichnungen von John Ruskin ermitteln (erschienen 1901/1902). Leichter macht es einem dann doch die gedruckte Widmung des Herausgebers an „Her Highness the Princess Mary Esterhazy“. Maria Theresia (1794-1874), äußerst aparte Tochter des Fürsten Karl Alexander von Thurn und Taxis, war mit Paul III. Anton Esterhazy vermählt, einem hochrangigen Diplomaten im Dienste Metternichs, und bewegte sich in ihrem Londoner Domizil in den höchsten aristokratischen Kreisen. Habent sua fata libelli.