Nachlass Friedrich Gennrich
Den umfangreichen Nachlass des bekannten Musikwissenschaftlers und Romanisten Friedrich Gennrich konnte die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main 1980 aus Mitteln der DFG antiquarisch erwerben.
Friedrich Gennrich (geb. 27.3.1883, gest. 22.9.1967) studierte in Straßburg u.a. Romanische Philologie und Musikwissenschaft bei Gustav Gröber und Friedrich Ludwig sowie an der Sorbonne (Joseph Bédier) und am Collège de France in Paris. 1908 promovierte er in Straßburg mit einer kritischen Ausgabe des "Romans de la dame à la Lycorne et du biau chevalier au Lyon". Nach dem Staatsexamen war Gennrich bis 1919 ebenda Oberlehrer, siedelte dann nach Frankfurt am Main über, wo er seit 1921 als Studienrat tätig war. Er habilitierte sich 1927 für Musikwissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität, wo er fortan bis ins hohe Alter forschen und lehren sollte (1929 wurde Gennrich auch die Venia legendi für das Fach Romanische Philologie erteilt; 1934 erfolgte die Ernennung zum apl. Prof.). Mehrere Studienaufenthalte führten ihn nach Frankreich und Italien, die auch dazu genutzt wurden, eine groß angelegte Materialsammlung aufzubauen. Der Zweite Weltkrieg verlor er nicht nur kostbare Werke seiner Privatbibliothek, sondern auch seinen einzigen Sohn. 1964 erfolgte die Emeritierung.
Gennrichs Forschungsgebiet war die ein- und mehrstimmige Musik des Mittelalters, insbesondere die Lieder der altprovenzalischen Trobadors und der altfranzösischen Trouvères. Als kongenialer Romanist und Musikologe beschäftigte er sich hierbei in akribischem Quellenstudium sowohl mit den Liedtexten als auch den dazugehörigen Melodien und lieferte damit neue Impulse und Erkenntnisse für die Forschung (vgl. seine frühe programmatische Schrift "Musikwissenschaft und romanische Philologie" von 1918). Daneben widmete sich Gennrich aber auch dem deutschen Minnesang und insbesondere dessen Beziehungen zum Liedgut der Romania bzw. der internationalen Verbreitung mittelalterlicher Melodien (Kontrafaktur-Forschung).
Durch etliche Neuentdeckungen auf dem Gebiet der einstimmigen Liedkunst konnte er zudem die Forschung um gänzlich neuartige Disziplinen bereichern, deren Kenntnis »zur Aufdeckung der Grundlagen abendländischer Musikpflege überhaupt erst befähigt» [Bittinger].
Aus Gennrichs zahlreichen Fachveröffentlichungen seien genannt: die
dreibändige Ausgabe der "Rondeaux, Virelais und Balladen" (1921/27/63),
sein "Grundriß einer Formenlehre des mittelalterlichen Liedes" (1932),
die Sammelausgaben "Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang"
(1951) und "Altfranzösische Lieder" (1953-56) sowie die große
Gesamtausgabe der Troubadourlyrik (1958-65). Dazu kommen mehrere
Liededitionen einzelner Autoren, Faksimileausgaben und Einzelstudien
wie "Die altfranzösische Rotrouenge" (1925), "Der deutsche Minnesang in
seinem Verhältnis zur Troubadour- und Trouvère-Kunst" (1926), "Melodien
Walthers von der Vogelweide" (1942), "Liedkontrafaktur in
mittelhochdeutscher und althochdeutscher Zeit" (1948) oder "Die
Kontrafaktur im Liedschaffen des Mittelalters" (1965).
Die Mehrzahl
seiner Publikationen nach 1946 gab Gennrich in den Reihen
"Musikwissenschaftliche Studien-Bibliothek" und "Summa musicae medii
aevi" im Eigenverlag heraus. Mustergültig sind seine Editionen
mittelalterlicher Musik nicht zuletzt durch die eigenhändig
ausgefertigten Notationen französischer und deutscher Provenienz samt
unterlegtem Liedtext, welche sich möglichst getreu an die
paläographischen Gegebenheiten der Quelle halten. Gennrich war seit
1938 Herausgeber der "Literarhistorisch-musikwissenschaftlichen
Abhandlungen" (Würzburg) und trat auch als Verfasser bedeutender
Artikel der MGG (1. Aufl.) in Erscheinung.
Nachlass
Der Großteil des Nachlasses (insgesamt 31,5 lfd. Meter) besteht aus Monographien (z.T. Handexemplare mit Anmerkungen), Aufsätzen und Rezensionen von Gennrich (über 250 Manuskripte, u.a. eine unveröffentlichte größere Schrift "Die Musik des Mittelalters"), Bänden der von ihm herausgegebenen Schriftenreihen, Arbeiten seiner Schüler und weiteren Monographien aus Gennrichs Privatbibliothek (1600 Bände).
Dazu enthält der Nachlass noch eine Sammlung von Fotografien und Mikrofilmen von etwa 240 - überwiegend mittelalterlichen - Musik-Handschriften (darunter solcher, die im Zweiten Weltkrieg verloren gingen), Zettelkarteien zum mittelalterlichen Lied (u.a. ein Verzeichnis von Anfängen der Trouvère-Lieder), eine geheftete Festschrift zum 60. Geburtstag des Forschers, Briefe und andere persönliche Unterlagen.
Durch die geschlossene Erwerbung des Nachlasses werden Quellen und Ergebnisse von Gennrichs Forschungen zur musikalischen Mediävistik lückenlos dokumentiert.
Katalog
Es existiert ein Verzeichnis von Teilbeständen des Gesamtnachlasses (Manuskripte, Reproduktionen und Filme der Handschriften); zu erfragen bei der LS-Aufsicht. Die gedruckten Monographien sind in den Allgemeinen Katalogen nachgewiesen.
Literatur
Art. Gennrich, Friedrich in: MGG (1. u. 2. Aufl.)
[Werkverz.], Riemann (11. u. 12. Aufl.), New Grove (2. Aufl.)
[Werkverz.], Honegger/Massenkeil: Das große Lexikon der Musik, Frankfurter Biographie, Kürschners
dt. Gelehrten-Kalender (versch. Aufl.)
Bittinger, Werner: Friedrich Gennrich in memoriam. In: Die Musikforschung 21 (1968), S. 417-421.
Kippenberg, Burkhard: Der Rhythmus im Minnesang : eine
Kritik der literar- und musikhistorischen Forschung mit einer Übersicht
über die musikalischen Quellen. - München : Beck, 1962. - (MTU ; 3) [S.
138-145].
Schubert, Johann G.: Friedrich Gennrich zum Gedenken. In: Acta musicologica 40 (1968), S. 199-201.
Sühring, Peter: Mitmachen und widerstehen. Zur
misslungenen Doppelstrategie des Friedrich Gennrich im Jahre 1940. In:
Musikforschung, Faschismus, Nationalsozialismus / Gesellschaft für
Musikforschung. Hrsg.: Isolde v. Foerster ... - Mainz : Are Ed., 2001.
- (Are edition ; 2065), S. 405-414.
(zum Nachlass)
Bibliotheca publica Francofurtensis : fünfhundert Jahre Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main / hrsg. von Klaus-Dieter Lehmann.
Textband. - Frankfurt am Main : Stadt- und Universitätsbibliothek, 1984, S. 316f.
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zuletzt geändert am 15. Oktober 2024